Bruderschaft, das ist ein Stück lebendiger Geschichte. Bei Parademarsch, Prozession und Königsball, in Szene gesetzt von Schützenbrüdern und -schwestern. Das sind brauchtumsbegeisterte Menschen, die die Tradition hochleben lassen und sich auf Fahnen und Orden zu Glaube, Sitte und Heimat bekennen. Das ist kein Verein von gestern, wenn auch mit jahrhundertealter Vergangenheit, sondern eine christliche Gemeinschaft, die sich den Themen der Zeit stellt. Der soziale Gedanke, von der katholischen Kirche den Schützenbrüdern eingegeben, hat sich zur tragenden Säule der Bruderschaften entwickelt.
Die Bereitschaft, Menschen in Not zu helfen, ob sie in der unmittelbaren Nachbarschaft oder in fernen Ländern der Unterstützung bedürfen, ist prägend für das bruderschaftliche Miteinander: Ob es, wie in Holt, um den Krankenhausbesuchsdienst in der Pfarre, um handwerkliche Arbeiten für Bedürftige, wie in Waldhausen, oder Spendenaktionen für Hilfsprojekte in der Dritten Welt, wie in Neuwerk und Korschenbroich, geht: Fast alle Bruderschaften der Region haben ihr eigenes Sozialprojekt, mit dem sie den beschützenden Charakter ihrer Gemeinschaft unterstreichen.
Das Miteinander in der Bruderschaft, das Jahr über gepflegt in Gruppen, Kompanien und Schützenzügen, macht die Stärke der Gemeinschaft aus: Oft ist die Schützenbruderschaft mit ihrem Schützenfest das (letzte) verbindende Element in alten Honschaften und Ortsteilen, die aufgegangen in der großen Stadt, manchmal nicht einmal mehr einen eigenen Pfarrer oder eine Schule haben und ohne das gemeinsame Fest ihrer Identität verlustig gingen. Das Zusammentreffen von Gemeinschaftsgefühl und Festfreude, macht die Bruderschaften offensichtlich attraktiv, auch für junge Menschen. Die Schützen kennen – bis auf Vereine in den Innenstädten - kaum Nachwuchssorgen. Gut ein Drittel ihrer Mitglieder dürfte jünger als 35 Jahre alt sein. Die Anziehungskraft der Bruderschaften ist in den ländlich und kleinstädtisch strukturierten Bezirken am größten, wo die Mitgliedschaft in der Bruderschaft fast selbstverständlich ist und häufig den Weg für weitere Ämter in Kirche oder Kommune ebnet.
Der verstärkte Zuzug von Neubürgern in den ländlichen Raum, hat die Integrationskraft der Bruderschaften gefordert. Bieten doch nicht zuletzt die Volks- und Heimatfeste erste Gelegenheit zur Kontaktaufnahme. Wer bereit ist, sich in die Gemeinschaft einzubringen, kann in der Bruderschaft eine Heimat finden, selbst wenn er aus der Fremde kommt. Nicht anders ist zu erklären, dass in Eicken ein britischer Fahnenoffizier mitmarschiert, die Dahler Schützen einen türkischen Gardisten in ihren Reihen wissen, in Stadtmitte und Waldhausen bereits ein spanischer und ein portugiesischer Schützenkönig amtierten, die Speicker einen echten britischen Colonel als Minister hatten, der Dorthausener Heimatverein ab und an Mitmarschierer aus dem nahegelegenen Nato-Hauptquartier rekrutiert, und Korschenbroicher Neubürger im „Hypo-Zug“ (der Schützenkompanie aus dem Hypothekenviertel) Anschluss finden. Und umgekehrt zieht es viele Schützenbrüder, wohin es sie auch immer verschlagen hat, zum großen Fest ihrer Bruderschaft in die alte Heimat zurück. Zuletzt kam in Korschenbroich, zu Unges Pengste, gar einer aus China eingeflogen.
Kluge Pfarrer haben längst erkannt, dass die Schützenbruderschaft wesentliche Stütze des Gemeindelebens sein kann, wenn man die Brüder nur zu nehmen weiß. Zwar gestehen die Bruderschaftler ein, keine besseren Christen zu sein, doch ist das christliche Selbstverständnis lebendig und wird auch im Pflichtprogramm zum Schützenfest dokumentiert: Erst die Festmesse, dann die Parade. Zu Recht beklagen sich mancherorts Pastore, zu viele Schützen zögen an der Kirche vorbei (statt hinein). Andere Seelsorger sehen die gute Gelegenheit, zumindest im Festzelt Brüder und Schwestern zu treffen und anzusprechen, auf die man nicht in jeder Sonntagsmesse trifft. Und: Die Bruderschaftler sind es gewohnt anzupacken. Sie helfen gern mit, wenn der Pfarrer ruft: Ob beim Pfarrfest, bei der Kirchenrenovierung, im Caritaskreis oder traditionell durch die Begleitung des Allerheiligsten bei der Fronleichnamsprozession. Als öffentliches Glaubensbekenntnis sind bruderschaftliche Fahnen im Verständnis der Schützen unverzichtbar. Die häufig mit wertvollen Stickereien versehenen Fahnentücher erinnern oft an den Schutzpatron aller Bruderschaften, Sankt Sebastianus, der als Märtyrer von Pfeilen durchbohrt wurde und für den Glauben starb.
Höhepunkt des bruderschaftlichen Lebens ist das Schützenfest. Oft ist es mit dem Vogelschuss verbunden, bei dem der neue Schützenkönig ermittelt wird. Wer mit seinem Schuss den letzten Rest des Holzvogels von der Stange holt, ist Schützenkönig und damit für ein Jahr höchster Repräsentant der Gemeinschaft und im Selbstverständnis der Schützen sogar König des gesamten Ortes. Als Zeichen seiner Würde, trägt die Schützenmajestät das Königssilber, eine häufig jahrhundertealte Amtskette, mit silbernen Wappenschilden, die auf frühere Amtsinhaber hinweisen. An des Königs Seite stehen die von ihm benannten Minister, die in alten Zeiten der Bruderschaft für das Königssilber (grammgenau) bürgen mussten. Zum großen Gefolge des Königs zählen die Offiziere der Bruderschaft, die bei Umzügen und Paraden kommandieren und der Vorstand. Ihm stehen vor, ein Brudermeister oder Präsident und der katholische Pfarrer als Präses (geistlicher Berater). Alle zusammen bilden mit Fähnrich und Fahnenoffizieren, den Hofstaat, dem im dörflichen Leben hohes Ansehen zuteil wird. Und die Frauen? Sie sind „die Zierde des Festes“, ziehen in herrlichen Roben mit auf, sind bislang aber nur in der Hälfte der Bruderschaften der Region als vollwertige Mitglieder (mit Recht auf Vorstandsamt und Königsschuss) anerkannt. Dafür sind Geschiedene – bei aller Ausrichtung auf katholische Glaubenssätze – nicht länger vom Königsamt ausgeschlossen. Evangelischen Christen hat sich die Bruderschaftsbewegung schon vor Jahrzehnten geöffnet, was letztens in Neuwerk soweit führte, die katholische Kirche zum Schützengottesdienst als „Ökumenische Versammlungsraum“ auszuweisen.
Kaum anderswo im Rheinland hat der Mainzer Volkskundler Professor Dr. Herbert Schwedt eine solche Vielfalt an Trachten und Bräuchen entdeckt, wie im Gladbacher Land. Besonderheiten werden erhalten und herausgestellt. Selbst beim Parademarsch gibt es Unterschiede: Ob Laufparade (zur Musik der Amboßpolka) in Hehn, Parade vor der Königin im Rheindahlener Land, Altarsparade (im Chorraum der Kirche) in Neuwerk und Bettrath, Parade vor der Geistlichkeit in Venn oder Klompenparade der Holzschuh-tragenden Damen in Günhoven, fast überall gibt es was Besonderes. Manchmal auch nur einmalig - als Gag: Wie in Hermges, wo vor Jahren ein König aufs Kamel stieg. Und dann die Uniformen? Richtig bunt geht es in Wickrathhahn zu, wo Husaren in fast allen Farben aufziehen. Auf preußische Kavallerie setzen die Waldhausener. Und in Pesch trägt der General sommertags sogar einen (historischen) Mantel. Vorherrschend sind Preußisch-Blau der Offiziere, Rheinisch-Grün der Jäger und das Schwarz der Grenadiere.
Wer auf Vielfalt und Eigenständigkeit setzt, muss auf gemeinschaftiche Aktivitäten nicht verzichten. Schon früh hatten die Schützen der Stadt und des Umlandes mit den „Vereinigten Bruderschaften“ eine gemeinschaftliche Organisation. Der Verbund, schon für das 19. Jahrhundert in Kassenberichten nachgewiesen, formierte sich 1925 neu, um sich dem in Mönchengladbach ansässigen „Volksverein für das katholische Deutschland“ anzuschließen. Die Pläne zerschlugen sich. Stattdessen beteiligten sich Gladbacher und Korschenbroicher Schützenbrüder 1928 in Köln, an der Gründung der „Erzbruderschaft vom Heiligen Sebastianus, dem heutigen „Bund der Historischen Deutschen Schützenbruderschaften“.
Der örtliche Bezirksverband „Mönchengladbach, Rheydt, Korschenbroich“ ist mit seinen 38 Schützenbruderschaften und -vereinen, der größte regionale Zusammenschluss des Bruderschaftsbundes. Geführt wird der Bezirksverband vom Bruderrat (Bezirksvorstand), mit Bezirksbundesmeister (von den Präsidenten gewählt) und Bezirkspräses (vom Bischof benannt) an der Spitze. Der Verbund ist alljährlich, am ersten Septemberwochenende, Gastgeber des Stadtschützenfestes in Mönchengladbach. Er ermittelt den „König der Könige“ (Bezirkskönig), richtet Bildungsveranstaltungen aus und pflegt mit der „Nachtwallfahrt der Bruderschaften„ die kirchliche Tradition. In der Schützenfeste „Dicker Turm“, in der Gladbacher Altstadt, einem Teil der mittelalterlichen Stadtbefestigung, unterhält der Bruderrat seit 1996 das Bezirksarchiv der Bruderschaften, das in den kommenden Jahren Schritt um Schritt zum niederrheinischen Schützenmuseum ausgebaut werden soll.
Sichtbarer Ausdruck des gewachsenen Anspruchs der Bruderschaften auf stadtweite Anerkennung, ist das 1981 von Bezirksbundesmeister Wilhelm Metzer neubelebte Stadtschützenfest, dessen Tradition auf das „Gladbacher Schützenfest“ von 1836 zurückgeführt wird. Aus dem Bruderschaftstreffen mit seinen bescheidenen Anfängen, hat sich im Laufe der Jahre ein großes Stadtfest entwickelt, das rund um den Alten Markt gefeiert wird und bis zu 50.000 Gäste anlockt. Das Fest führt Schützen und Bürger zusammen. Es vereint die Bruderschaften aus Stadt und Land, die nach 1945 Jahrzehnte brauchten, um ein gesamtstädtisches Selbstbewusstsein zu entwickeln. Mehr als 2.500 Schützen und Musikanten ziehen zum Stadtschützenfest durch die Stadt. Die Bruderschaften krönen im Münster ihren (Bezirks-)König und paradieren zu dessen Ehren am Alten Markt. Der farbenprächtige Festzug mit Reitern, Kutschen, viel Musik, bunten Uniformen und Fahnen, zeugt von Traditionsbewusstsein und Gemeinschaftsgefühl der Schützenfamilie, die in Stadt und Land rund 20.000 Menschen umfasst. Die „friedliche Demonstration“ der Bruderschaften, die beim Stadtschützenfest für Glaube, Sitte und Heimat Flagge zeigen, wird bereichert durch stadtgeschichtliche Gruppen. Ob Jan van Werth, Napoleon oder Graf Balderich mit Gemahlin Hitta zurückkehren, die Schützen bemühen sich, Gladbacher Stadthistorie lebendig werden zu lassen. Sie erinnern an 350 Jahre „Westfälischer Friede„ oder „Gladbach vor 1200 Jahren„, als Papst Leo III. die von Balderich und Hitta gestiftete erste Kirche geweiht haben soll. Dass manch überlieferte Begebenheit aus der Stadtvergangenheit im Dunkeln liegt (wie die Entstehungsgeschichte der Bruderschaften im Mittelalter), stört die Schützen dabei nicht. Sie handeln im Bewusstsein, dass ihr Brauchtum, das Auf und Ab der Geschichte seit Jahrhunderten überstanden hat – auf zwei- oder dreihundert Jahre mehr oder weniger kommt es ihnen kaum an. Schließlich gibt es immer wieder eifrige Forscher, die - wie jüngst der Pfarrer von Wanlo - immer neue Quellen der Schützengeschichte ausgraben und die Bruderschaft altern lassen – in Wanlo bis auf 600 Jahre. Waldhausen soll mehr als 700 Jahre alt sein, Neuwerk, Giesenkirchen, Hardt und Rheindahlen gehören nach bruderschaftlicher Selbsteinschätzung zu den über 500-Jährigen. Bruderschaft ist eben ein Stück lebendiger Geschichte.
Horst Thoren