Bevor es Bruderschaften gab, gab es Kämpfer für Glaube, Sitte und Heimat
Bei dem Versuch, die Geschichte der Schützenbruderschaften zu beschreiben, reicht es nicht aus, auf die erste Schützenbruderschaft zu schauen, um sich dann weiter, bis in die Gegenwart vorzuarbeiten. Um zu verstehen, wie es zur Entstehung von Schützenbruderschaften gekommen ist, muss man tiefer in die Geschichte blicken. Die Wurzeln und frühesten Anfänge von Bruderschaften, weisen in die Ostkirche des 4. Jahrhunderts n. Chr. Dabei handelt es sich um Gebetsbruderschaften, das heißt, um Gemeinschaften des Betens füreinander. In der frühesten Form waren es Gebetsgemeinschaften der Lebenden, für die bereits Verstorbenen. Schon in der frühen Kirche war es Glaubensgut, dass die Verstorbenen nach ihrem Tod, bis zur Vollendung am jüngsten Tag dem Leib nach geläutert werden, wohingegen die Seele bereits Gott schaut, wie es die Kirche im Mittelalter als Glaubenslehre festhält. Dabei kann man Läuterung als eine reinigende Vorbereitung auf die volle, geistige und leibliche Begegnung mit Gott verstehen. Im 4. Jahrhundert erwachte nun die Vorstellung, dass die Lebenden durch ihre bittenden Gebete an Gott, den Verstorbenen bei dieser Läuterung helfen können. So prägte das Totengedächtnis ursprünglich den Inhalt dieser Bruderschaften. Ihre Tätigkeiten lagen im gedenkenden Gebet für die Verstorbenen so wie wir heute noch das Totengebet vor der Beerdigung eines Verstorbenen kennen. Die Mitglieder solcher Bruderschaften waren zudem gewiss, dass auch für sie nach ihrem Tode gebetet wird. In unseren Raum gelangte diese Idee der Gebetsbruderschaften im Zuge der Missionierung im 7. Jahrhundert durch irische Mönche, die die ostkirchliche Gebetsverbrüderung in die eigene Frömmigkeitspraxis aufgenommen hatten. Die Gebetsbruderschaften breiteten sich im 8. Jahrhundert im gesamten christlichen Abendland aus. Doch bekamen diese Gebetsgemeinschaften eine neue, zweite Akzentuierung. Es ging nun nicht mehr nur um die geistige Verbrüderung von Lebenden und Toten, sondern auch zwischen Lebenden untereinander und zwar in der ursprünglichsten Form, zwischen Einzelpersonen und einem Kloster. So betete zum Beispiel die Gemeinschaft des Klosters „Monte Cassino“ in der Nähe von Rom für den heiligen Bonifatius, der in unserem Raum missionierte. Zweck einer solchen Verbrüderung war es, sich gegenseitig geistliche Hilfen durch Gebet und der Feier der heiligen Messe zuzuwenden, sowohl im Leben, als auch nach dem Tod. Diese Art der geistigen Verbindung wurde zunehmend üblich, wobei man die Namen derjenigen, für die Fürbitte geleistet werden sollte, und zwar von Lebenden und Verstorbenen, von Geistlichen wie Laien, in Verbrüderungsbücher eintrug. Ein noch erhaltenes Buch solcher Art, das „liber memorialis“ der Abtei Reichenau aus dem 10./11. Jahrhundert, der Blütezeit der Gebetsverbrüderungen, enthält nahezu 40.000 Namen.
In dieser Zeit trat eine weitere wichtige Entwicklung in der Geschichte der Bruderschaften ein. Eine Gebetsbruderschaft aus dem 11. Jahrhundert war die „St.-Vitus-Bruderschaft“ in Goslar. Ihre Hauptaufgabe war das Gebetsgedenken der verstorbenen Brüder und die Armenspeisung. Hier tritt nun zum ersten Mal die caritative Bedeutung der Bruderschaften in den Blick, die Sorge für die Armen. Für die weitere Entwicklung der Bruderschaften bis zum heutigen Tag, ist diese Aufgabe bedeutend geworden und geblieben.
Ein letzter wichtiger Gesichtspunkt, um die Geschichte der Bruderschaften zu verstehen, ist die Bedeutung von Pfarreien und Kirchen, für das Entstehen von Bruderschaften. Sie entstanden vorwiegend in den Städten, indem sie sich an die eine oder andere Pfarrei oder Ordenskirche am Ort anschlossen und hier ihr eigentliches und geistliches Zentrum hatten. Ein Höhepunkt im Leben der Bruderschaft bildete die Jahresgedächtnisfeier mit dem Jahreshauptgottesdienst der Bruderschaft zu einem bestimmten Termin, der meist mit dem Patronat der Bruderschaft zusammenfiel. Nach dieser heiligen Messe, trafen sich dann die Mitglieder zum Bruderschaftsmahl, sodass auch dem Gemeinschaftscharakter untereinander eine besondere Bedeutung beigemessen wurde. Der geschichtliche Grundriss der kirchlichen Bruderschaften und seiner wichtigsten Charakteristika, sind nun zusammengefasst worden. Die wichtigsten Anliegen der Bruderschaften, das Gebet für die lebenden und verstorbenen Mitglieder der Bruderschaft und die Fürsorge für die Armen, sind deutlich hervorgetreten. Man kann mit Recht sagen, dass Bruderschaften ihrem Wesen nach immer kirchlich waren und sind. Zur Vollständigkeit sei noch die Entwicklung der Bruderschaften von der Reformation bis zur Neuzeit dargestellt. In den, von der Reformation betroffenen Gebieten, gingen die Bruderschaften aufgrund von Verboten und Auflösungen durch die neue Obrigkeit unter. Auch die nachfolgende Aufklärung und die durch sie ausgelöste Säkularisierung bzw. die Gedankenströmungen des Humanismus schafften nur wenig Raum, für ein Erstarken bzw. einer Wiederbelebung des christlich-kirchlichen Bruderschaftsgedankens. In katholisch regierten Gebieten wandelten sich die Bruderschaften zu Vereinen der Volksfrömmigkeit und waren nach dem Erblühen in der Barockzeit nur noch im liturgischen Bereich anzusiedeln. So entstanden neue Bruderschaften zum „Herzen Jesu“, zum „Hl. Josef“, besonders auch zur Mutter Gottes und anderen Heiligen. Die Bruderschaften wurden in der Folgezeit mehr und mehr verzweckt und dienten der kirchlichen Sozialisation und der religiösen Erziehung in erheblichem Maße. Die ursprüngliche Art von Bruderschaften ist nur noch in historischen Gebetsbruderschaften und den historischen Schützenbruderschaften erhalten geblieben. Jedoch bleiben die bestehenden, mittelalterlichen und neuzeitlichen Bruderschaften für die Geschichte der christlichen Frömmigkeit, Mentalität und der religiösen Volkskunde von großer Bedeutung.
Die Schützenbruderschaften
Der lange Vorspann zur Geschichte der Bruderschaften war notwendig. Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass es ohne die Bruderschaften im ursprünglichen Sinn, keine Schützenbruderschaften gäbe, wie wir sie heute kennen. Es wären vielleicht kleine Stadtarmeen entstanden, die ihre Eigenständigkeit im Laufe der Geschichte bestimmt nicht hätten halten können. Erst durch die Übernahme von Strukturen und in der Übernahme der Bruderschaftstradition, kam es zur Ausbildung von Schützenbruderschaften mit unterschiedlichen Zielen und Schwerpunkten. Die ersten Schützenbruderschaften entstanden im 13. Jahrhundert in Flandern und breiteten sich rasch über den nordeuropäischen Raum aus. Es waren freiwillige Vereinigungen, die sich zum Schutz der Stadt bzw. des Dorfes zusammenschlossen. Diese Zusammenschlüsse wurden von der Obrigkeit unterstützt und gefördert, wobei in Gefahr die Männer dieser Schützenbruderschaften aufgeboten wurden. Nach der Sitte der Zeit waren sie zugleich kirchliche Bruderschaften und übernahmen deren Ordnungsstrukturen und Rahmen, so dass nur das erstrangige Ziel verändert wurde, das nun eben in der Verteidigung der Städte vor Feinden und Verbrecherbanden bestand. Zum Schützendienst war jeder verpflichtet, „den Dienst mit der Waffe auf den Wällen und dem Felde“ zu leisten. Die Selbstverteidigung war eingeschlossen, um „Straßenschindern, Freibeutern und sonstigen Personen, die seyn zu Pferd oder zu Fuß, in Büschen, Herbergen, Scheunen, Ställen und uff dem Felde aufzupassen und das Handwerk zu legen“. Doch ging es in diesen Bruderschaften nicht nur um militärische Zwecke, sondern der durch den Besuch der heiligen Messe und den brüderlichen Zusammenhalt untereinander bezeugte und praktizierte Glaube, war Bestandteil des Lebens und Wirkens einer Schützenbruderschaft. Dieser religiöse und kirchliche Moment dürfte dazu geführt haben, dass sich die Schützenbruderschaften bis in die heutige Zeit halten konnten und sich nicht in lokalen Armeen und Heeren auflösten. Durch den Bezug zum Leben der Pfarrgemeinde vor Ort behielten sie ihre Eigenständigkeit.
Vor der Reformation erlebten die Schützenbruderschaften ihre Glanzzeit, was sich besonders an imposanten und pompösen Wettschießen der Bruderschaften untereinander festmachen lässt. Hier dürfte auch die Vorform des heutigen alljährlichen Schützenfestes zu finden sein. Mit der Reformation verloren die Schützenbruderschaften ihren kirchlichen Charakter in protestantischen Gebieten und erlebten dort im Dreißigjährigen Krieg und in der Folgezeit einen enormen Rückgang. Aber auch in den meisten katholischen Gebieten, schien die Zeit der Schützenbruderschaften zu Ende zu gehen. Erst im 19. und 20. Jahrhundert entstanden neue Vereine, die nach dem 2. Weltkrieg in katholischen Gebieten oftmals Bruderschaften wurden und damit an die alte Tradition der „Historischen Schützenbruderschaften“ anknüpften, die die Stürme der Zeit und der Geschichte überlebt hatten.
Bruderschaft und Kirche
Durch die Betrachtung der Geschichte der Bruderschaften ist bereits deutlich geworden, dass Religiosität und näherhin Christlichkeit und Kirchlichkeit die Bruderschaften geprägt und bestimmt haben. Deshalb gibt es einen Zusammenhang von Bruderschaften und Kirche. Der christliche Glaube möchte zur Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott führen. Zugleich führt er aber auch die Menschen des gemeinsamen Glaubens zusammen. Dieses Geschehen des „Einswerdens“ ereignet sich für die Glieder des Volkes Gottes in der Kirche, dem „Leib Christi“. Die Betrachtung des Neuen Testaments zeigt, dass die Brüderlichkeit die Gemeinschaft der Kirche bestimmt. Vor allem der Apostel Paulus bringt in seinen Briefen den Begriff Brüderlichkeit in den Zusammenhang mit dem der Liebe. Die „Bruderliebe“ weist auf eine brüderliche Praxis des Miteinander hin. So heißt es im Galaterbrief 5,13: „Dient einander durch die Liebe.“ Weitere Beispiele zur Umschreibung der Bruderliebe bei Paulus sind „untereinander auf dasselbe ausgerichtet sein“ (Röm. 15,5 und Phil. 2,2) oder „untereinander die Lasten tragen“ (Gal. 6,2). Auch im Matthäus-Evangelium wird der Aufruf zur Brüderlichkeit deutlich und näher definiert. In Matthäus 23,8 heißt es: „Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder.“ Der Brudergedanke im Neuen Testament fordert ein solidarisches Miteinander der Christen untereinander. Weiter gefasst ist die Bruderliebe auch Ausdruck der Gleichheit der Christen untereinander. In der Bruderliebe geht es neutestamentlich um Gleichheit, weshalb auch die neuere Diskussion um die Frage nach Bruder und Schwester in der Briefanrede des Paulus theologisch überflüssig und den Sinn von Brüderlichkeit entstellend ist. Die Brüderlichkeit meint also das Miteinander in der Lebensgemeinschaft der Kirche. Brüderlichkeit ist zudem aber auch eng mit der Kirche verbunden. Zum einen ist die Brüderlichkeit eine Hauptgestalt der Kirche, zum anderen repräsentiert und ist die Kirche die geistliche Gemeinschaft, welche die Bruderliebe erzeugt und aufbaut. Die Bruderliebe stiftet unter den Gläubigen eine geistige Einheit, die durch die Kirche sichtbar wird. So führt also der christliche Glaube die Menschen zur Bruderliebe und fließt über in die Gemeinschaft der Kirche. Dieser religiöse und geistliche Prozess lässt sich auch in der Geschichte der Bruderschaften nachweisen.
Ein Schritt zurück nach vorn. Nachdem wir nun zurück geschaut haben, gilt es Neuland unter den Pflug zu nehmen und nach vorn in die Zukunft zu schauen. Es hat sich gezeigt, dass jede Zeit besondere Aufgaben für die Menschen und ihre sozialen Institutionen und Vereinigungen mit sich brachte. Sowohl die Menschen als auch die Institutionen und Vereine, darunter die Schützenbruderschaften, haben jeweils auf die veränderten Anforderungen der Zeit reagiert und gehandelt. Aus Verbrüderungen des Gebetes, wurden Verbrüderungen des Helfens und des Betens. Wenn sich auch die Schwerpunkte der Aufgaben verändert haben, so ist für die Bruderschaften festzuhalten, dass einige Merkmale nie verloren gegangen sind. Zum einen die Bindung an die Pfarrgemeinde vor Ort und damit auch an die Kirche. Ebenfalls damit verbunden, ist die Dimension des Glaubens. Denn der Glaube führt die Menschen zur Gemeinschaft und zum gemeinsamen Bekenntnis zusammen. Ebenso ging der Gemeinschafts- bzw. Brudergedanke nicht verloren. Was sich jedoch verändern kann, sind die Aufgaben einer Bruderschaft. Das gilt auch für die Bruderschaft St.Sebastianus und St.Vitus, Obergeburth Waldhausen, die sich immer wieder, orientierend am Zustand der Gesellschaft und der Menschen der Umgebung, Aufgaben gibt, die nicht dieselben, wie vor einigen hundert Jahren sind. Aber sie bleibt ihrer 725 Jahre langen Tradition treu, indem sie das niemals loslässt, was ihre Identität und Geschichte ausmacht.
Rolf Gries